Medientipps: Demokratie und Bürgerbeteiligung im Netz

Wir alle wissen das schier unendliche Medienangebot im digitalen Zeitalter zu schätzen. Auch zu den Themen Demokratie und Bürgerbeteiligung haben wir heute per Mausklick Zugang zu einer ...

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angle-left Interview mit Bürgermeister-Coach: "Eine Kommune ist keine Obrigkeitsfirma!"

Der Moderator und Städtetagsfachberater Martin Müller über die gründliche Vorbereitung bei Bürgerbeteiligungen, Umgang mit nervigen Bürgern und den richtigen Umgang mit Scheitern.

Herr Müller, Sie sind Coach und Projektmanager, Moderator und Motivator, Dozent und Unternehmer. Wie bezeichnen Sie sich selbst?
Ich bin ein Menschenfreund, der gerne andere Menschen zusammenbringt: Ich inszeniere Treffen, Operationen und Projekte. Das ist manchmal tatsächlich wie ein Schauspiel, bei dem wir alle viel lernen können.

Sie führen zum Beispiel Bürgermeister und Bürger in Bürgerbeteiligungen zusammen. Wie beschreiben Sie die Beziehung zwischen den Beiden?
Es gibt in den 1101 Städten und Gemeinden in Baden-Württemberg ganz unterschiedliche Haltungen und Meinungen dazu. Jede Kommune ist anders, auch wenn es einige Gemeinsamkeiten gibt.

Wie sollte die Beziehung zwischen Bürgermeister und Bürger sein?
Ein Bürgermeister sollte seine Kommune nicht als Obrigkeitsfirma oder Serviceleistung sehen, sondern als Bürgerkommune führen. Er ist der Chef für strategisches Denken und steht vor so vielen Herausforderungen, die man nur gemeinsam angehen kann.

Nun finden die meisten Bürger Tagesordnungspunkte und Gemeinderatssitzungen nicht sehr spannend. Wie motiviert denn ein Bürgermeister seine Bürger?
Ich mache immer die Erfahrung, dass auf die Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören, Ihnen auch Dinge richtig zu erklären und Interesse zu wecken, sehr viel bringt. Sie müssen mit den Bürgern Dialoge führen, Sie müssen sie ernst nehmen und Sie müssen ihnen auch Zeit geben. Hören Sie die Menschen an in der Situation, in der sie sind und dazu gehört auch, die Bürger auch mal schimpfen oder spinnen zu lassen. Wenn Sie Menschen in diesen Situationen zuhören, werden sie sich auch für Ihre Anliegen interessieren. Sie dürfen als Bürgermeister nie nur selbst ein Referat halten. Das ist ganz wichtig.

„Ein Bürgermeister führt keine Obrigkeitsfirma, sondern eine Bürgerkommune.“

Die Beziehung zwischen Bürgermeister und Bürger besteht also vor allem aus der persönlichen Kommunikation?
Ja. Ich habe bereits zwei Wahlkämpfe mitgemacht. Als Bürgermeister müssen Sie Klinken putzen gehen. Sie müssen den Menschen ins Gesicht schauen und sie nicht per Mail abfertigen. Schauen Sie sich an, mit wem Sie sprechen, nehmen Sie Ihr Gegenüber wahr. Das können Sie üben, in dem Sie zum Beispiel einmal über die Einkaufsstraße in Ihrem Ort laufen, den Menschen ins Gesicht schauen und sich fragen, in welcher Lebens-Situation der Andere gerade ist. Was hat der Mensch für einen Hintergrund?

Auf jeden zuzugehen funktioniert auf dem Dorf, wo der Bürgermeister jeden kennt. Aber in einer Kleinstadt ist das nicht mehr möglich.
Naja, aber in einer Kleinstadt haben Sie ja entsprechende Quartiere und im Rahmen der Quartiersarbeit können Sie auch in einer großen Stadt die Menschen wahrnehmen. Oder nehmen Sie die Kneipe, das Café an der Ecke, den Kiosk oder den Lebensmittelladen: Auch da können Sie mit Menschen in Kontakt treten und ihre Situation wahrnehmen.

Die Kommunikation zwischen Bürgermeister und Bürger ändert sich nicht, egal, ob ich in einem Dorf bin oder in einer Stadt?
Eine Stadt wie Stuttgart hat ja nicht nur einen Bürgermeister für ihre 23 Bezirke, sondern Sie haben „Bezirksansprechpartner“, in Ihrer Verwaltung entsprechend ausgebildete Fachkräfte und nicht zuletzt auch Expertise von außen: Wenn Sie regelmäßig gemeinsam in den Austausch treten und Sie als Bürgermeister entsprechende Türöffner in der Verwaltung haben, kann das sehr gut funktionieren. Schauen Sie sich zum Beispiel die Ortsvorsteher an - durch ihre Kontakte in ihren Ort oder auch nur in ihr Viertel üben sie eine sehr wichtige Funktion in einer Stadt aus.

„Eine Bürgerbeteiligung braucht die richtige Vorbereitung.“

Wie kann ein Bürgermeister denn noch spüren, wie es gerade in der Gemeinde aussieht?
Er kann zum Beispiel Bürgerbeteiligungen in verschiedensten Formen durchführen. Das kann heute auch zusätzlich sehr gut online gemacht werden. Sie brauchen Gesprächsformate, Ansprechpartner vor Ort, aber auch Sprechzeiten, die man für die Bürger einrichtet. Oder stellen Sie einen Stehtisch auf, mitten in die Fußgängerzone oder auf dem Marktplatz! Dadurch zeigen Sie den Bürgern, dass Sie sich für ihre Anliegen interessieren. Wenn Bürger Sie dann allerdings auf ein Problem aufmerksam machen, sollten Sie sich auch darum kümmern und nachhaken. Da muss gleich was passieren.

Die sozialen Medien spielen also keine Rolle?
Als Bürgermeister sollten Sie vor allem in die Eins-zu-Eins-Situation gehen. Die lässt sich aber in den sozialen Medien kaum abbilden. Aber sicher: Kommunikation kann auch in den sozialen Netzwerken funktionieren. Es ist vor allem eine Sache der Pflege und der Gesprächsbereitschaft.

Wann wird die Beziehung zwischen Bürgern und Bürgermeistern denn ungesund?
Eine Beziehung ist dann ungesund, wenn einer dem anderen wehtut, ihn nicht achtet und nicht entsprechenden Respekt entgegenbringt. Oft fehlt dann die Balance im gesamten Leben. Vielleicht kommen Sie als Bürgermeister gar nicht mehr von der Arbeit weg. Man darf nicht vergessen, sich auch mal eine Pause zu gönnen und beispielsweise einfach einen Nachmittag grundsätzlich anderen Dingen zu widmen, auch mitten in der Woche. Man steht ja oft genug am Wochenende zur Verfügung. So ist das mindestens ein verdienter Ausgleich.

Auch eine Beteiligung kann ungesund werden. Sie sagen, dass Beteiligung bedeutet, Prozesse und Ergebnisse auszuhalten. Was meinen Sie damit?
Eine Bürgerbeteiligung durchzuführen bedeutet erst einmal eine gründliche Vorbereitung: Sie müssen sich fragen, was Sie bei einer Beteiligung erwarten wird. Für diese Vorbereitung nehmen Sie am Besten jemanden, der nicht in der Kommune sitzt. Nehmen Sie mit externer Hilfe Politik und Gesellschaft mit. Wenn die Beteiligung dann beginnt, müssen Sie den Bürgern ganz klar sagen, worum es geht und was genau am Ende entschieden wird, was er beeinflussen und entscheiden kann und was nicht - und transparent kommunizieren, wenn ein Bürger den Prozess zu sehr stört, weil er viel zu sehr meckert oder nörgelt. Ich nenne dieses bestimmte Auftreten "den Killer dabeihaben". Aber Sie müssen auch die Bürger motivieren und über den Prozess informieren. Sagen Sie doch in Ihrer Verwaltung, dass jeder Mitarbeiter fünf andere Leute aus seinem Freundeskreis aus der Stadt auf die Beteiligung ansprechen soll - und motivieren mitzukommen. Mit diesem kleinen Tipp nehmen Sie gleich noch die Politik und die eigene Verwaltung mit.

„Machen Sie eine Beteiligung nicht allein. Suchen Sie sich mindestens vier Leute, die Sie begleiten.“

In der politischen Realität können Sie aber gar nicht alle Parteien ins Boot holen.
Ja, aber Sie sollten sie einladen und auf sie zugehen. Wenn Sie den Menschen zuerst zuhören und mit den Menschen immer wieder reden, die eine andere Position einnehmen, werden Sie feststellen, dass das meist sehr vernünftige Menschen sind, auch wenn man sich an der ein oder anderen Stelle nicht einig ist. Klarheit hilft, auch bei Befürchtungen und Ängsten!

Dennoch kann bei bestimmten Themen ein gewaltiger politischer Druck entstehen.
Sie dürfen eine Beteiligung auch nicht alleine machen, sondern Sie brauchen Leute in Ihrem Team, die Sie dabei begleiten. Sie brauchen mindestens 3 Typen: Sie brauchen den, der die Zahlen kennt, den, der alles sehr kritisch sieht und den, der ihr Anliegen teilt. Tauschen Sie sich mit diesen Menschen aus, auch per Mail oder per WhatsApp wenn es sein muss. Ihr Team muss gar nicht so groß sein, meistens reichen vier bis acht Leute. Dadurch, dass Sie nicht alleine sind, halten Sie automatisch auch den Druck bei solchen Prozessen viel besser aus. Auseinandersetzungen fruchtbar zu führen und auch selbst Fehler eingestehen zu können, bringt alle weiter – und den Prozess auch.

„Haben Sie den Mut, einen Dialog auch abzubrechen.“

Ist nicht irgendwann ein Punkt erreicht, an dem der Dialog aufgegeben werden muss, weil man keinen Konsens findet? Bis zu welchem Zeitpunkt ist Dialog denn sinnvoll?
Um diesen Punkt zu finden, haben Sie Ihr Team: Sprechen Sie über die Reaktionen aus den verschiedenen Gruppierungen bei einer Beteiligung, auch dann, wenn Sie angegangen oder beleidigt wurden. Es kann sein, dass sie fachlich oder technisch nicht mehr weiterkommen in einer Diskussion. Da gilt es ebenso, genau diesen Punkt zu finden, an dem man den Dialog beendet. Das bedeutet aber auch, den Mut zu haben, einen Dialog aktiv von selbst abzubrechen.

Mir darf also auch mal die Hutschnur platzen nach allem Reden?
Das kommt natürlich immer auf den Charakter an: Sie sollten sich natürlich nicht verstellen.

Sie fordern nicht nur den Mut ein, einen Dialog abzubrechen, sondern Sie fordern auch ein, eine Haltung zu haben.
Ja. Sie sollten wissen, wie Sie Menschen gegenüberstehen und welche Meinung Sie bei einem bestimmten Thema haben. Ich meine damit eine Haltung, die Vielfalt als Grundlage hat, die inklusiv im weitesten Sinne ist und die Transparenz lebt.

Wie trenne ich denn dann meine eigene Haltung vom Beteiligungsprozess?
Sie stehen als Person für eine bestimmte Haltung. Wenn sich beispielsweise Jugendliche in Ihrer Kommune einen neuen Skatepark wünschen, aber Sie die Meinung vertreten, dass es bereits genügend Möglichkeiten für Jugendliche in Ihrer Gemeinde an dieser Stelle gibt, dann sprechen Sie mit den Jugendlichen und tauschen Sie sich über die Bedürfnisse und unterschiedlichen Einschätzungen aus. Meine Haltung ist dabei, dass die Auseinandersetzung offen und fair geführt wird, dass am Ende auch was realistisches herauskommen kann und somit dabei geschimpft, gesponnen und gehandelt wird – gemeinsam.

„Es gibt Bürgermeister in Baden-Württemberg, die es echt drauf haben!“

Sie begleiten ja nun seit vielen vielen Jahren Bürgermeister und beraten sie. Was haben Sie mitgenommen für sich persönlich?
Von Bürgermeistern können Sie etwas lernen über Gelassenheit und Geduld, wenn diese mit dem Gemeinderat umgehen müssen. Sie lernen auch etwas darüber, wie man strategisch bestimmte Ziele durchsetzt, was Verwaltung alles kann, was Kommunalpolitik alles bewegt und wie viel Spaß es macht, etwas zu bewegen und zu schaffen. Und nicht zuletzt lernen Sie: Es gibt Bürgermeister in Baden-Württemberg, die es echt drauf haben!

Woran merke ich eigentlich als Bürgermeister, dass ich Sie brauche? Kann ich das selbst herausfinden oder muss jemand auf dem Team sagen, dass ich mal besser den Herrn Müller anrufen muss?
Stellen Sie sich die Frage, ob Ihnen die Sitzung, die Sie heute Abend noch haben, eigentlich Freude bereitet. Fragen Sie sich, ob Sie gerne wiedergewählt werden wollen, eher Angst davor haben oder eine Wiederwahl noch zu Ihrer Lebenslage passt. Holen Sie sich jemanden von Außen, wenn Sie Selbstzweifel oder das Gefühl haben, nichts mehr für sich und/oder für Ihre Stadt erreichen zu können. Allerdings ist das nicht so einfach: Ich weiß zum Beispiel, dass Bürgermeister vor allem auf persönliche Empfehlung zu mir kommen. Das hat was damit zu tun, dass Sie im Internet erschlagen werden von Beratungsangeboten.

Aber wenn mir der Beruf an sich keinen Spaß mehr macht, ist doch das Kind schon viel zu tief in den Brunnen gefallen.
Bei einem Job, bei dem Sie immer in der Öffentlichkeit stehen und kaum einen privaten Moment haben - wenn Sie nicht selbst dafür sorgen -, dauert diese Erkenntnis meist sehr lange. Ich bin 55 und als Kind der geburtenstarken Sechziger habe ich die komische Vorstellung mitbekommen, immer durchzuhalten und zu viel Verantwortungsbewusstsein zu haben, weil ich gewählt wurde. Die junge Generation dagegen hat gelernt, dass es auch ein Scheitern geben und man diesem lernen kann. Wenn Bürgermeister zu mir kommen, gestehen sie sich oft zum ersten Mal ihre Zweifel und möglicherweise das Scheitern ein. Dann gehe ich mit den Bürgermeistern zunächst essen und spazieren und höre mir die Situation ganz in Ruhe an.

„Es kann ein Scheitern geben und man kann daraus lernen!“

Woran merken Sie im Gespräch, dass der Bürgermeister tatsächlich gescheitert ist oder man die Situation noch drehen kann?
Ich höre mir nicht nur an, was der Bürgermeister sagt, sondern ich frage auch die Menschen auf der Straße. Meistens ist das auch eine ganz einfache Frage: Kennen Sie eigentlich den Bürgermeister? Oder ich spreche mit dem Gemeinderat über den Bürgermeister. Achten Sie einmal, wenn Sie ein Rathaus betreten auf die Stimmung: Wie offen ist das Rathaus gestaltet? Wie schauen die Menschen? Ich sage den Bürgermeistern meistens dann sehr klar, was ich gehört habe und denke. Schauen Sie: Wir lassen uns von allen Seiten fachlich beraten - der Jurist gibt uns rechtliche Hilfe, der PR-Mann lehrt uns Sprache -, aber kaum jemand denkt an die persönliche Schiene. Dabei ist umfassend und ganzheitlich geschultes Personal wichtig. Emotionale Intelligenz bekommt immer mehr Gewicht, und das ist gut so.

Und wie verkaufe ich als öffentliche Person, in der ich als Bürgermeister bin, dieses Scheitern?
Sie können zum Beispiel sagen, dass Sie das Programm, die Strategie verändern wollen oder die Verwaltung so neu aufstellen, wie es die anstehenden Inhalte in der Stadtentwicklung benötigen. Die Frage ist: Gibt es noch einen Spirit in der Verwaltung oder braucht es einen neuen, für den alle stehen und arbeiten?

Wo lassen Sie sich eigentlich beraten?
Ich habe ein paar Menschen, die mir zuhören, die mich wahrnehmen und selbst einen Coach. Außerdem bin ich mit anderen Coaches in kollegialen Supervisionsprozessen. Wenn ich diese beiden Ebenen nicht hätte, die kollegiale und die professionelle, würde ich durchdrehen.

Wann haben Sie Ihrem Coach zuletzt gesagt, dass Sie gescheitert sind?
Das ist eine gute Frage. Ich habe mal einen Bürgermeister gecoacht, der nicht auf sich selbst und auch nicht auf die gemeinsam erarbeiteten Prozessergebnisse unserer Arbeit hören wollte und deswegen nicht mehr wiedergewählt wurde. Er hat diese Niederlage wohl für sich gebraucht. Das muss eigentlich nicht sein. Da sind wir zusammen gescheitert und haben aber ebenso daraus gelernt. Es geht immer weiter - aufregend, oder?

Vielen Dank für das Gespräch.

Weiterführende Links:

Das Gespräch führte Redakteur Sascha Blättermann.

Bildnachweis:Privat

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